Die Liebe

(© Melanie Vogel) So wie wir „lernen“, menschlich zu sein, lernen wir auch zu lieben. Forschungen von Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Anthropologen und Pädagogen weisen darauf hin, dass Liebe eine „gelernte Antwort, eine gelernte Emotion“ und damit ähnlich zu behandeln sei wie eine Sprache, die man lernt. Nicht ohne Grund spricht man daher wohl auch von der „Sprache der Liebe“.

Eine Fremdsprache lernt man, indem man Grammatik und Vokabeln paukt und Satzkonstruktionen verinnerlicht. Wirklich sprechen lernt man die Sprache aber erst in dem jeweiligen Land. Wenn man nämlich versteht, warum manche Ausdrücke verwendet werden, wenn man die Gestik und Mimik in die Deutungshoheit der Sprache einbezieht und so dem eigenen Sprechen Lebendigkeit und Authentizität verleiht. Denn genau jetzt verschwimmen Sprache und Kultur und bilden einen gemeinsamen Kontext. Das also, was wir in unserer Muttersprache selbstverständlich von Kindheit an lernen. In beiden Fällen – der Liebe und der Sprache – spricht man von „Literacy“, einem (sprachlichen) Kontextverständnis.

Dieses sprachliche Kontextverständnis geht weit über das Vokabellernen und Grammatik verstehen hinaus. Es spiegelt vielmehr eine „kontextabhängige Ansammlung sozialer Praktiken“. In dieser Kontextabhängigkeit entwickeln und verändern sich die Lese-, Schreib- und Sprechpraktiken aller Menschen immer dann, wenn sich auch ihre biografischen, kulturellen, politischen und historischen Kontexte verändern.

Das ist vergleichbar mit der Liebe, eine der grundlegendsten menschlichen Emotionen, ohne die kein einziges Menschen-Baby überleben kann. Aber auch sie verändert sich im Kontext – und mit dem Alter. Unsere Liebesfähigkeit verändert sich Zeit unseres Lebens. Kulturell verhalten wir uns jedoch so, als ob Liebe nur darauf warten würde, durch romantische Gesten und den „richten“ Mann oder die „richtige“ Frau zum Leben erweckt zu werden. Ich persönlich halte das für eine der schlimmsten gesellschaftlichen Illusionen überhaupt, weil sie auf jeden Menschen, der nicht “ad hoc” und “auf Abruf” Liebe empfinden kann, einen immensen emotionalen Versagensdruck ausübt.

Dabei hat Liebe, als Emotion, ähnlich viele Facetten wie eine Sprache. Sie ist von Kontext zu Kontext anders. Es gibt die Geschwisterliebe, die Liebe zu den eigenen Kindern, die Selbstliebe, die Nächstenliebe, Menschenliebe, Tierliebe, die Liebe zur Natur, zum Beruf, zu den Kolleginnen und Kollegen. Schließlich lieben wir auch bedingungslos, wir lieben körperlich (Eros) und jeder Mensch durchlebt irgendwann einmal die erste Verliebtheit. In die Gefühlswelt der Liebe gehört außerdem die tiefe Verbundenheit zu anderen Menschen, tägliche liebevolle Zuwendungen und das Gefühl der liebevollen Selbstachtung. Über dieses Repertoire an Liebes-Emotionen verfügen wir nicht von Geburt an, sondern es entsteht durch Erkenntnis, Lernen, Leben, Entwicklung. Die Fähigkeit, dieses Repertoire irgendwann im Leben abrufen zu können, ist im Menschen angelegt. Aber ob es uns auch gelingt, so vielseitig zu lieben, steht auf einem ganz anderen Blatt und ist KEINE Selbstverständlichkeit.

Und schließlich gibt es auch noch die toxischen Formen der Liebe, nämlich die narzisstische Liebe und die Hassliebe. Wir erfahren Liebesentzug und wir können von Liebe erdrückt werden. Liebe enttäuscht, verrät und verletzt. Liebe ist vermutlich die vielseitigste Emotion, die wir empfinden können – und sie ist die am meisten missverstandene, weil sie Dank Schmonzetten, Liebesdramen und Liebesromanen zutiefst romantisiert wurde. Liebe kann, wenn wir uns unserer eigenen Liebesfähigkeit nicht bewusst sind, einen egoistischen und sehr manipulierbaren Anteil haben, der andere Menschen in Abhängigkeiten und Unglück stürzen und sie dazu veranlassen kann, sich unseren Liebeswünschen und -bedürfnissen anzupassen. In diesem Fall sprechen wir nicht über eine gleichwertige bedingungslose Liebe, sondern hier wird bedingt geliebt – und auch das hat toxische Elemente.

Wenn wir also Liebe in ihrer ganzen Schönheit und Tragik „als emotionale Sprache“ sprechen und sie zutiefst verinnerlichen und verstehen wollen, brauchen wir gewissermaßen ein „Kontextverständnis der Liebe“. Und so wie mit der Liebe, so verhält es sich wie mit allen anderen Emotionen. Sie sind vielschichtig, kontextabhängig, werden kulturell gleich empfunden, aber unterschiedlich gewertet und ausgelebt.


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